Universität Stuttgart
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Einführung zum „Himmlischen Gastmahl“

Über das „Himmlische Gastmahl“

Beim „Himmlischen Gastmahl“ handelt es sich um die geistliche Rede eines anonymen Verfassers. Diese umfasst in ihrem ältesten von fünf Überlieferungsträgern – der womöglich aus Köln stammenden Hs. 68 der Landesbibliothek Wiesbaden von ca. 1280 – 240 Verse. Der Text, auch als „Tisch im Himmelreich“ bekannt, ermahnt – ausgehend von Lk. 22, 28-30 – die Zuhörer in predigthaftem Ton zu einem gottgefälligen Erdenleben. Auf diese Weise sollen sich die Rezipienten den bereits in den ersten Versen des Textes geschilderten, reich gedeckten Tisch Gottes im Himmel erwerben. Breiten Raum nehmen dabei anaphorische Reihungen und Begriffsoppositionen ein, mit denen die Vergänglichkeit und unstaete, die der welte minne eigen ist, dem himmlischen Lohn für den beständigen Gottesdiener gegenübergestellt werden.

Ausweislich vieler Reime wurde das „Himmlische Gastmahl“ von einem „Normalmittelhochdeutsch“ sprechenden Dichter des 13. Jahrhunderts verfasst. Das „Himmlische Gastmahl“ wurde offenbar über Jahrhunderte und in mehreren Regionen des deutschsprachigen Raumes tradiert.

Bisher ist das „Himmlische Gastmahl“ trotz verhältnismäßig breiter Überlieferung wesentlich als Element bzw. Anhang der unikal auf uns gekommenen geistlichen Dichtung „Die Lilie“ betrachtet worden. Auch die drei anderen in der Wiesbadener Handschrift befindlichen kürzeren Gedichte sind seltener überliefert als das „Himmlische Gastmahl“. Der in der Wiesbadener Handschrift greifbare Text scheint ausweislich der anderen Überlieferungsträger ein recht frei ergänz- bzw. filetierbarer Kern einer geistlichen Rede gewesen zu sein, auf den man über zweihundert Jahre lang zurückgegriffen hat. So adaptierte die Meininger Handschrift lediglich den Textbeginn, während die Handschriften in Wolfenbüttel und (ehemals) Königsberg ganze Passagen frei mit anderen geistlichen Gedichten verbanden. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die in mehreren Handschriften enthaltenen Passagen eine meist sehr geringe Varianz aufweisen. Die einzelnen Elemente der Rede vom Tisch im Himmelreich waren also relativ variabel kombinierbar, ihr Text blieb aber über Jahrhunderte – seit mindestens dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts bis ins 15. Jahrhundert – recht konstant. Dies unterscheidet das „Himmlische Gastmahl“ von anderen Kurztexten aus der Wiesbadener Handschrift, deren Parallelüberlieferung z.T. wesentlich größere Abweichungen aufweist; ob dies für einen besonders hohen Status des „Gastmahls“ innerhalb seines Funktionskontexts steht, wäre gesondert zu untersuchen.

Drei Handschriften(fragmente) weisen sprachlich in den nieder- und mitteldeutschen Raum, während die Meininger und Wiesbadener Handschriften nach Rhein- und Mittelfranken weisen. Hinzu kommt, dass den Reimen des „Himmlischen Gastmahls“ „klassisches“ Mittelhochdeutsch zugrunde gelegen hat (z.B. versmeth:lazet zu ursprünglich versmât: lât; rait:het zu rât:hât). Insgesamt weist der Text also eine recht weite geographische Verbreitung auf.

Wesentliche Fragen an das "Himmlische Gastmahl", so zu seiner Entstehung, Verbreitung und Funktion, zu intertextuellen Bezügen und zu seinem Publikum, sind gegenwärtig kaum oder gar nicht beantwortet. Dies zu ändern, bedarf es nicht zuletzt einer Neudition des Textes nach modernen Standards, die wir hiermit vorlegen. Die bisherigen Ausgaben - Baesecke 1907 und v.a. Wüst 1909 - sind jeweils über 100 Jahre alt und nehmen nur einen Überlieferungsträger in den Blick.