| A | K | Ein dish in himelriche steit, [Bl. 119r] | Ein Tisch steht im Himmelreich, |
| A | K | der wile der sůzer spisen het. | auf dem viele köstliche Speisen stehen. |
| A | | ein riche wirt de sizt daruver. | Ein reicher Gastgeber hat den Vorsitz. |
| A | | mit grozer frouden inde mit love | Mit großer Freude und mit Lob |
5 | A | | dienet man deme kůninge rige. | dient man diesem mächtigen König. |
| A | | he het ouch des vermezen sich, | Er hat sich außerdem dazu entschlossen, |
| A | | dat he in allen genuch wilt geven, | dass er allen, die von seinen Speisen |
| A | | die siner spisen willent leven. | leben wollen, genug geben will. |
| A | | he deit uns des gewisheit: | Er gibt uns darüber Gewissheit: |
10 | A | | sowe durch in lidet arbeit, | Wer immer um seinetwillen Mühe leidet, |
| A | | sowe hie gemaches gerne inbirt, | wer immer im Diesseits bereitwillig auf Annehmlichkeit |
| | | | verzichtet, |
| A | | dat he des disches werdich wirt, | der wird des Tisches würdig, |
| A | | den die helige driveldicheit | den die heilige Dreifaltigkeit |
| A | | alda ze himele hat bereit. | dort im Himmel bereitet hat. |
15 | A | | der disch, de da bereide is, [Bl. 119v] | Von diesem Tisch, der dort gedeckt ist, |
| A | | danave sprichet ihesus crist: | spricht Jesus Christus: |
| A | | "Sowelc mensche mines dinstes pligt, | "Welcher Mensch immer mir dient, |
| A | | sowe it sime vleisch angesigt, | wer immer sein Fleisch überwindet, |
| A | K | soweme mine spise nit inversmath | wer immer meine Speise nicht verschmäht |
20 | A | K | inde der werelde froude durch mich in lazit, | und die Freude der Welt um meinetwillen drangibt, |
| A | K | sowen mines dinstes nie verdroz, | wen immer mein Dienst nie verdross, |
| A | | de sal wesen mine ezzegenoz. | der wird mein Tischgenosse werden. |
| A | | de sal miner spisen genieden sich | Der wird sich mit mir ewig im Himmelreich |
| | K | mit mir an ende in himelrich. | an meinen Speisen erfreuen. |
25 | A | | min disch de is bereidet algar. | Mein Tisch steht ganz und gar gedeckt. |
| A | | ilet balde, cůmet dar! | Beeilt euch, kommt dorthin! |
| A | | nit inbeidit, dat is mi rait, | Zögert nicht, das ist mein Rat, |
| A | | wan man da ganze vrowede het | denn dort gibt es vollkommene Freude, |
| A | | inde sůze spise inde sůze gesmach, [Bl. 120r] | köstliche Speise und lieblichen Duft, |
30 | A | | der ůr lif inde ůr sele gelusten mach." | an denen sich euer Körper und eure Seele erfreuen können." |
| A | K | sus ladit uns unser here ihesus crist - | So ruft uns unser Herr Jesus Christus zu sich - |
| | | inde, owe leider, wat der is, | doch oh weh, wie viele gibt es, |
| A | K | die sine ladunge versmehint | die seinem Ruf nicht folgen |
| A | | inde zů sime dische nit ingeint. | und nicht an seinen Tisch kommen. |
35 | A | | mit der werelde is in alze wale, | Das Weltliche behagt ihnen allzu wohl, |
| A | | si sint irre spisen vol. | sie sind voll mit seinen Speisen. |
| A | K | umbe dat himelriche inruchent si nit, | Das Himmelreich kümmert sie nicht, |
| A | | wande si der werelde minne na ir zut. | denn die Weltliebe zieht sie mit sich fort. |
| A | | darumbe můzen si gevaren | Darum müssen sie |
40 | A | | mit des hungeres dodes scharen, | sich den Scharen derer anschließen, |
| A | | die da in der hellen birnent | die den Hungertod erleiden, in der Hölle brennen |
| | | inde nimer froude ingewinnent. | und nie mehr Freude erfahren. |
| A | | hunger, durst da nit endes inhet; | Hunger und Durst nehmen dort kein Ende; |
| A | | der qualen wirdet niemer rait. | es gibt keine Erlösung von den Qualen. |
45 | A | | Ich sagen in die warheit; [Bl. 120v] | Ich sage ihnen die Wahrheit; |
| A | | gelovent si mir nit, dat is mir leit. | wenn sie mir nicht glauben, tut mir das leid. |
| A | K | sowat in da schande geschiet, | Was ihnen (deshalb) dort an Schande widerfährt, |
| A | | intdruen, des inmach ich nit: | wahrlich, dafür kann ich nichts: |
| A | K | selve dede, selve have! | Was du dir eingebrockt hast, löffle selbst aus! |
50 | A | | ich keren mine reide herave: | Ich wende meine Rede von diesem Thema ab: |
| | | ich willen der sůze reden nagain, | Ich will dem holden Redeinhalt folgen, |
| A | | van der ich begunnen han, | von dem ich angehoben habe, |
| A | | dat ich getroste die godes kint, | auf dass ich die Kinder Gottes tröste, |
| | | die darna arbeidende sint, | die sich danach abmühen, |
55 | | | dat si gesmachen der sůzer spise | dass sie die wohlschmeckende Speise |
| | | in deme grune paradise. | in jenem grünen Paradies kosten werden. |
| A | | des helpe uns, de uns geschaffen het. | Dazu verhelfe uns, der uns geschaffen hat. |
| A | | Nu horet, kindere, wie die rede irgeit: | Nun hört, Kinder, wie die Rede lautet: |
| A | K | eẏa, sůze ihesus crist, | Eya, holder Jesus Christus, |
60 | A | | welch froude, welche wunne da is, | welche Freude, welche Wonne ist dort, |
| A | K | da du den dinen schenkes, [Bl 121r] | wo du den Deinen ausschenkst, |
| A | | da du si spises unde drenkes | wo du sie speisest und tränkst |
| | | mit diner heiliger gotheit. | mit deinem heiligen göttlichen Wesen. |
| A | K | ich dun dirs, herre, einen heit, | Herr, ich leiste dir darauf einen Eid, |
65 | | | dat ich da gerne were, | dass ich dort gern wäre, |
| A | | da du selve bis spise unde spisere. | wo du höchstselbst sowohl Speise wie Speisegebender bist. |
| A | | wie gerne ich, here, da eze, | Wie gern, Herr, äße ich dort, |
| A | | da du selve bis druseze, | wo du selbst Truchsess bist, |
| A | K | da du den dinen zů dres | wo du den Deinen auftischst |
70 | | | inde in dine sůze hende budes. | und ihnen deine holden Hände reichst. |
| A | | wie moite in imer werden baz? | Wie könnte ihnen jemals wohler werden? |
| | | mit weninden ougen sprechen ich dath, | Mit weinenden Augen sage ich, |
| | K | dat mir ein drunch van diner hant | dass mir ein Trunk aus deiner Hand |
| A | | liver were dan alle diͤ lant | lieber wäre als alle Ländereien |
75 | A | | ave alle der scaz ave alle de rait, | oder alle Schätze oder aller Besitz, |
| A | | den der himel ave diͤ erde beslozzen hait. | den der Himmel oder die Erde umschließt. |
| | | uͦver dime dische, here min, [Bl. 121v] | An deinem Tisch, mein Herr, |
| A | | da můz ganze froude sin. | wird vollkommene Freude sein, |
| A | K | wan rehte man sich da frouheit, | denn man freut sich zu recht dort, |
80 | | K | da man di sůze antlitze schoheit | wo man dein holdes Antlitz anschaut |
| A | | inde ouch der sůzer můder din, | und auch das deiner holden Mutter |
| | | sente marien, der himelscher kůningin, | St. Marien, der Himmelskönigin, |
| A | K | die allto dat himelische her vro machet, | die immerzu die himmlischen Heerscharen beglückt, |
| A | K | so ir sůze munt si anelachet. | wenn ihr holder Mund sie anlächelt. |
85 | A | | so man ir antlitze anesit, | Wenn man ihr Antlitz anschaut, |
| | | sone můgen si sich inthalden nit, | so können sie nicht anders, |
| A | | sine werden vro van allen sinnen | als sich an der Schönheit der edlen Königin |
| A | | van der schonede der edele kůninginen. | mit allen Sinnen zu freuen. |
| A | | wat solde in bessere ougenweide | Welch größere Augenweide könnte es für sie geben |
90 | A | | dan die sůze antlitze beide [Bl. 122r] | als die holden Gesichter |
| A | | des sunes inde ouch der můder sin? | des Sohnes und auch seiner Mutter? |
| A | | eÿa, sůze vrowe min, | Eya, meine holde Herrin, |
| | | durch ihesum cristum, din lievet kint, | um Jesu Christi Willen, deines lieben Kindes, |
| | | hilf den, die noch hie niden sint, | hilf denen, die noch auf Erden leben, |
95 | A | | dat si dich da můzen schowen | dass sie dich dort sehen dürfen |
| A | | inde ouch manige schone iuncvrowe, | und auch viele schöne Jungfrauen, |
| | | die da plegent der kameren din. | die sich dort um deine Gemächer kümmern. |
| A | | můst ich eine halve stunde da sin, | Dürfte ich eine halbe Stunde lang dort sein, |
| | K | ich inwolde niemer trurich werden, | so wollte ich nie mehr traurig werden, |
100 | A | | sold ich dusint iar leven uf der erden. | selbst wenn ich tausend Jahre auf Erden lebte/ leben müsste. |
| A | | ihesu, sůze sceppere, | Jesus, holder Schöpfer, |
| | | min herce inwirt niemer vro me, | mein Herz wird niemals mehr froh, |
| | | ich ingesie dich in himelriche. | wenn ich dich nicht im Himmelreich sehe. |
| A | | da ist gůt wesen, dunket mich. | Mir scheint, dort ergeht es einem wohl. |
105 | A | | swie ich doch niet dar si kůmen, [Bl. 122v] | Ich habe - obgleich ich dorthin nie gekommen bin - |
| | | die wareit han ich doch wale vernomen, | dennoch die Wahrheit genau vernommen, |
| A | K | dar is wunsch und wunschenes gewalt, | dass [dort] alles ist, wie man es sich nur wünschen kann, |
| A | | sůze kurtewile manichfalt. | [und] vielerlei wunderbare Kurzweil. |
| A | K | si sint vro, si sint gemeit. | Sie sind froh, sie sind glücklich. |
110 | A | K | die schone int gegenwerdicheit | Die Schönheit und Gegenwart [Mariae und Christi] |
| A | | die machet si alle hogemůt, | macht sie alle hochgestimmt, |
| | | want in nit so senfte indut, | denn ihnen tut nichts so wohl, |
| | | so dat du, sůze ihesu crist, | wie dass du, holder Jesus Christus, |
| A | | mitten under in da bis. | dort mitten unter ihnen weilst. |
115 | A | | sine gerent me noch min, | Sie begehren nichts mehr oder weniger, |
| A | | wande si dich da havent under in. | denn sie haben dich bei sich. |
| | | si sint vro, des hant si reith, | Sie sind froh, [und] damit haben sie Recht, |
| | | du bis ir here, du bis ir kneth, | du bist ihr Herr, du bist ihr Knecht, |
| A | K | du bis ir dranc, du bis ir az.[Bl. 123r] | du bist ihr Trank, du bist ihre Speise. |
120 | A | | wie moite in imer werden baz? | Wie könnte es ihnen jemals besser ergehen? |
| A | | so si gesmachent diner sůzicheit, | Wenn sie von deiner Lieblichkeit gekostet haben, |
| A | | it indarf in niemer werden leit, | wird es ihnen niemals leidtun, |
| | | dat si dir hie gedinit hant, | dass sie dir hier auf Erden gedient haben, |
| A | K | want si da nit dis inmissegeint, | denn sie entbehren im Jenseits nichts davon |
125 | | | des ir lief ave ir herce gert. | was ihr Körper oder ihr Herz wünscht. |
| A | | des sint si alles da gewert, | Sie erhalten im Jenseits alles, |
| A | | des si da irdenkin kůnnen. | was sie sich nur erdenken können. |
| A | | si waren vile wale versunnen, | Sie waren sehr besonnen, |
| A | | dat si dat hant irholt an dich, | dass sie sich dies von dir verdient haben, |
130 | | | die wile si leveden up ertriche. | während sie noch auf Erden weilten. |
| A | | vil liven kint, gedenket herane - | Liebe Kinder, denkt daran - |
| A | K | durch unsen heren ich ůch manen - | um unseres Herren Willen ermahne ich euch - |
| | | dat ir deme wirtde van himelriche | dass ihr dem Herrn des Himmelreichs |
| A | | dienet vil vlizliche, [Bl. 123v] | besonders eifrig dient, |
135 | | | dat ir diese kranke werilt versmeth | dass ihr diese sündhafte Welt verschmäht |
| A | | inde wertiltliche geluste lazet | und weltlichen Gelüsten nicht nachgebt |
| A | | inde sowat frouden darinne wesen mach. | und welche Freude es in der Welt geben mag. |
| A | | id kůmet noch die zit inde der dach, | Es wird noch die Zeit und der Tag kommen, |
| A | | dat ir ůch vile sere sult frouhen, | da ihr euch sehr freuen werdet, |
140 | A | K | so ir uren brůdegome sult beschohen - | wenn ihr euren Bräutigam anschauen werdet - |
| A | | dat is der milde sůze ihesus crist, | das ist der gütige, holde Jesus Christus, |
| A | | der anginne aller frouden is. | der der Ursprung aller Freude ist. |
| A | K | he is ir sprincburne, | Er ist ihr Springbrunnen, |
| A | | he is aller lieve inde aller wunne. | er ist die Liebe aller und die Freude aller. |
145 | A | | sowe in minnet de inis nit bedrogen: | Wer ihn liebt, der ist nicht betrogen: |
| | | der werelde minne hat gelogen | Die Liebe zur Welt hat leider viele Menschen |
| | K | inde verleidet leider manigen man, | belogen und verleitet, |
| A | | de sich nit darfur gehuden inkan. | die sich nicht vor ihr hüten können. |
| A | | sowat minnen an got wesen mach,[Bl. 124r] | Welche Liebe es ohne Gott geben kann, |
150 | A | | dat is der selen ein michel slach. | das ist für die Seele ein harter Schlag. |
| A | | sowa godis minne sich niederlazit, | Wo auch immer sich Gottes Liebe niederlässt, |
| A | | sowelich herce si in sich intfeit, | welches Herz sie in sich aufnimmt, |
| | | dat is sůze und froudebere. | das ist hold und freudebringend. |
| A | | ouch is ime der werelde froude ummere. | Außerdem ist ihm die Weltfreude gleichgültig. |
155 | A | | wilt du godes minne in dime herce han, | Möchtest du Gottes Liebe in deinem Herzen tragen, |
| A | | so must du der werelde minne lazen. | dann musst du von der Weltliebe lassen. |
| A | | din herce dat is enge, | Dein Herz ist eng, |
| | | got inwilt nit sin in gedrenge. | Gott möchte nicht in dieser Enge sein. |
| A | | sine sůze minne si is so zart | Seine Liebe ist so zart |
160 | A | | und des siden und des art, | und so geartet, |
| A | | dat si dat herce wilt haven eine. | dass sie das Herz allein für sich haben will. |
| A | | mit der werilde inhat si nit gemeine. | Mit der Welt hat sie nichts gemein. |
| A | | sal got din herce buen, [Bl. 124v] | Soll Gott in deinem Herze wohnen, |
| A | | so must du der werelde minne schuen: | so musst du die Minne der Welt scheuen: |
165 | A | | sine sint nit gerne zesamene beide; | Die beiden sind nicht gerne beisammen; |
| A | | id is gut, dat man si shede | man tut gut daran, sie zu trennen |
| A | K | inde sich halde an die minne ihesus crist, | und sich an die Minne Jesus Christus zu halten, |
| A | K | vonde sine minne noch sůzer is | denn seine Minne ist noch süßer |
| A | | dan die werilt, sowat si minnen het: | als die Welt, was auch immer sie an Verlockungen haben mag: |
170 | A | | kinder, den minnet, dat is mi rait! | Kinder, liebt diesen, das ist mein Rat! |
| A | | so man in iemer minnet, | Wenn man ihn immer liebt, |
| A | | so man iemer me liven zů ime gewinnet; | gewinnt man immer mehr Liebe zu ihm; |
| A | | so man baz in versuchet, | je mehr man ihn schmeckt, |
| A | | so man sin iemer geruchet; | desto mehr begehrt man ihn; |
175 | | | so man in baz beschowet, | je näher man ihn betrachtet, |
| | | so man me na ime dowet. | desto mehr verzehrt man sich nach ihm. |
| A | | sine minne is der werilde minne ungelich, [Bl. 125r] | Seine Minne ist der der Welt ungleich, |
| A | K | die so schire hat geleidit sich. | die sich so schnell in Leid verkehrt. |
| A | | si is hude sůze, si is morne sur, | Sie ist heute süß, sie ist morgen sauer, |
180 | A | | si is hude ein eis, si is morne ein fur, | sie ist heute Eis, sie ist morgen Feuer, |
| A | K | si is hude eine blůme, si is morne ein hor, | sie ist heute eine Blume, sie ist morgen Dreck, |
| A | | si suret hinden und sůzet for, | sie quält am Ende und schmeichelt zu Beginn, |
| A | | si is hude grune, si is morne valle, | sie ist heute grün, sie ist morgen fahl, |
| A | K | si is hude ein ere, si is morne ein scende, | sie ist heute Ehre, sie ist morgen Schande, |
185 | A | | si is hude wiz, si is morne roit, | sie ist heute weiß, sie ist morgen rot, |
| A | | si is hude gesunt, si is morne doit, | sie ist heute Gesundheit, sie ist morgen Tod, |
| A | | si is hude ein stail, si is morne ein gelas, | sie ist heute Stahl, sie ist morgen Glas, |
| A | K | si is hude ein bom, si is morne ein vul gras, | sie ist heute ein Baum, sie ist morgen Gras, |
| A | K | si is hude lif, si is morne leit. | sie ist heute Freude, sie ist morgen Leid. |
190 | A | | sowe sich keret an ir unstadicheit, [Bl. 125v] | Wer sich mit ihrer Unbeständigkeit einlässt, |
| A | | de můz unstede mit ir wesen | der muss mit ihr unbeständig werden |
| A | | und sal an der selen kůme genesen. | und wird schwerlich seine Seele retten. |
| A | | si zugit in na ir in den mist, | Sie zieht ihn mit sich in den Dreck, |
| | | dat is der werilde beste list. | das versteht die Welt am besten. |
195 | | | si gelovet sůze inde leistet sur, | Sie verspricht Süßes und hält Saures, |
| A | | des hat si harte lutzel dur. | deshalb hat sie keinerlei Bestand. |
| A | | dat si in leistert inde scendet | Dass sie ihn verspottet und verhöhnt |
| A | | inde in zů der hellen sendet, | und ihn zur Hölle schickt, |
| A | | de sich an die werilde minne lazit, | der sich der Weltliebe hingibt, |
200 | A | | dat is die beste minne, die si het. | das ist die beste Minne, die sie hat. |
| A | | si sendit in in den hellengrunt. | Sie schickt ihn in den Abgrund der Hölle. |
| A | | die wege sint ir da walle kunt, | Die Wege, die zur Hölle führen, |
| A | | die zu der hellen sint gestalt, | sind ihr genau bekannt, |
| A | | want si manigen darin het gevalt, | denn sie hat schon viele dort hinab gestürzt, |
205 | A | | den si in diseme live verleidet. [Bl. 126r] | die sie in diesem Leben/Leib irreführte. |
| A | | in inis anders da nit bereidet | Diese erwartet dort nichts Anderes als |
| A | | dan - ach mich, owe! - heiz unde kalt | - weh mir, o weh! - Hitze und Kälte |
| | | inde andere pine manigefalt | und vielerlei andere Schmerzen |
| A | | inde slangen inde creden: | und Schlangen und Kröten: |
210 | | | die solen ime sinen lif zetreden, | Die werden ihm seinen Körper zerquetschen, |
| | | si sulin sugin sine bruste | an seinen Brüsten saugen |
| A | | umbe sines vleisches geluste, | aufgrund der Gelüste seines Fleisches, |
| A | | dainne he froliche svevede, | in denen er sich fröhlich treiben ließ, |
| A | | die wile he up ertriche levede. | solange er auf Erden lebte. |
215 | A | | golt, silver inde schone husrait, | Gold, Silber und schöner Hausrat, |
| A | | sůze spise unde rich gewait, | wohlschmeckende Speise und üppige Kleidung, |
| A | | ezzen, drinken, senfte leven, | Essen, Trinken, angenehm Leben, |
| | | deme fleische sinen willen geven, | fleischlichen Gelüsten nachgeben, |
| A | | dat leven versvenden an arbeit, | das Leben ohne alle Anstrengung vergeuden, |
220 | A | | froliche sunden mit sichereit, [Bl. 126v] | fröhlich sündigen in Sorglosigkeit, |
| A | | laggen, claffen, unnuzze wort - | Lachen, Schwatzen, unnütze Rede - |
| A | | dat můzen si allet arnen dort. | das werden sie alles im Jenseits bezahlen. |
| | | sin geilir lif wirt da gezemet. | Sein sinnenfreudiger Körper wird dort gezähmt. |
| A | | id wirt on allet ingeremmet, | Sie werden von Kopf bis Fuß mit Ruß geschwärzt, |
225 | | | so dat ime bezer were, | so dass es für ihn besser wäre, |
| | | dat inn sin můder nie gebere. | wenn ihn seine Mutter niemals geboren hätte. |
| A | | der wive hofart si inis nie so groz, | Wie groß die Hoffart der Frauen auch ist, |
| A | | kůment si der hellen in iren schoz, | man wird ihnen, wenn sie in den Schoß der Hölle gelangen, |
| A | | man sal it in wale kunden, | genau mitteilen, |
230 | | | dat si it daden mit sunden. | dass ihr Tun sündig war. |
| A | | mit bittheren slegen sal man si it manen. | Mit schmerzhaften Schlägen wird man sie daran erinnern. |
| | | ir bruste rizen si mit den zenden, | Ihre Brüste werden sie mit den Zähnen zerreißen |
| | | allen iren lif zecrazchent si | und ihren ganzen Körper zerkratzen |
| | | umbe ir hofart, die si driven hie. [Bl. 127r] | wegen der Hoffart, die sie im Diesseits betrieben haben. |
235 | A | K | sus endent sich der werilde leich. | So endet der Reigen der Welt. |
| | | is si nu sůze, is si nu weich, | Wenngleich sie gegenwärtig süß und angenehm ist, |
| | | si wirdet so bitter inde engestlich, | wird sie doch derart bitter und ängstigend, |
| | | als it got irbarme van himelrich. | dass es bei Gott im Himmel Erbarmen hervorrufen möge. |
| A | | de muz uns van irre minnen keren | Der führe uns von ihrer Liebe fort |
240 | | | inde muz uns sinen willen leren. | und lehre uns seinen Willen. |
| A | K | amen | Amen |