Meerwunder – Editionstexte mit Übersetzung

Das Meerwunder [PDF]

Nun hort und schweigt zu disser stunt:[Bl. 193r]Hört jetzt (gut) zu und seid still:
Ich mach euch abentewer kuntIch mache Euch eine abenteuerliche Geschichte
Von einer kungine.Von einer Königin bekannt.
ADie was eim kunig lobesan.Die gehörte zu einem vortrefflichen König.
5ADo wuchs ein teuffellicher man,Damals wuchs ein teuflischer Kerl heran,
Der wolt die frawen gewine.Der sich die Dame unterwerfen wollte.
AKEr tet ir leides gar genug,Er tat ihr viel Leid an,
Als ir hernach wert horen.Wie ihr anschließend noch hören werdet.
Er was so grimig und unfug,Er war so grimmig und unbändig,
10Al weib wolt er betoren.Und er wollte alle Frauen um ihre Ehre bringen.
Er trug den reinen frawen has.Er hasste die keuschen Damen.
Wo ym eine mocht werden,Wo immer er eine erwischte,
Die schwecht er und sie darnach fras.Vergewaltigte er sie und fraß sie dann auf.
 
Nun mogt ir horen, wan er kom,Nun sollt ihr erfahren, woher er abstammte,
15Derselbe teuffellische stom,Er, dieser teuflische Abkömmling,
Von wem er wurd geporen:Und von wem er geboren worden war:
Es sass ein edel fraw so herEs lebte eine edle und vornehme Dame
KIn Luneria pei dem mer,In Luneria an der Küste,
Ein kungin ausderkoren.Eine ganz auserwählte Königin (war sie).
20Die ging spacziren fur den waltDie ging am Waldesrand spazieren,
Dort pei dem mer so wilde.Dort am tobenden Meer.
Do kom ein merwunder gar palt,Da kam plötzlich ein Meerungeheuer schnell daher,
Ein graussamliches pilde.Das entsetzlich anzuschauen war.
Das schwecht die frawen ausderkornDas vergewaltigte die auserwählte Königin
25Mit noten uber iren danck.Und nötigte sie mit Gewalt gegen ihren Willen.
Dovon der weidman wart geporn.Das führte zur Geburt des Frauenjägers.
 
Die fraw die leid gros angst und not,Die edle Dame erlitt große Angst und Not,
sie wer nahent gestorben dot[Bl. 193v]Das Meerungeheuer hätte sie
Wol von dem merewunder.Fast ums Leben gebracht.
30KEr czwanck sie uber iren danckEs bezwang sie gegen ihren Willen,
Und das die fraw wart totlich kranckSo dass die Frau tödlich geschwächt wurde
Von dem graussamen kunder:Von dem grausamen Untier:
Es het fus als ein fledermausEs hatte Füße wie eine Fledermaus
Und was rauch als ein pere,Und war behaart wie ein Bär,
35Ging aufgericht in hohem praus,Es lief äußerst schnell auf zwei Beinen,
Recht als es ein mensch were.Ganz so, als wäre es ein Mensch.
Es het augen nach falcken art,Augen hatte es wie ein Falke,
Sein maul was einer spane weit,Sein Maul war eine Spanne breit,
Uber sein prust so ging sein part.Über seine Brust hing ihm der Bart.
 
40ADie fraw gar nachent tot beleib,Die Frau blieb halbtot liegen,
Pis das der teuffel do vertreibBis der Teufel seiner Lust
Sein lust do mit der frawen.An der Dame Genüge getan hatte.
Sie sprach: "awe der grossen not!Sie sagte: „Ach, welch große Not!
Nun wolt ich lieber ligen dotIch wäre lieber tot
45Den das ich hie sol schawen:Als dies hier erleben zu müssen:
So gar ein ungehewres pildEin derart monströses Wesen
Sol mir mein leib beczwingen.Soll mich (vollkommen) bezwingen.
AKO her, nun pis mein schirm und schilt,Ach Herr (und Gott), sei du nun mein Schirm und Schild,
Las mir nit misselingen!Lass mir nichts Schlimmes widerfahren.
50Sol ich dem wessen untertan,Muss ich demjenigen untertan sein,
Der als ein teuffel ist gestalt?Der wie ein Teufel aussieht?
Nit lang ich das gedulden kan."Ich kann das nicht lange ertragen.”
 
Do reit ein edel furst so her,Da kam (plötzlich) ein vornehmer Fürst herbeigeritten,
ADer gunt do iagen pei dem merDer dort an der Küste auf die Jagd
55hirs, hinden und manck wilde.[Bl. 194r]Nach Hirschen, Hirschkühen und anderem Wild gehen wollte.
Do schrey die fraw so wol getan:Da schrie die schöne Dame:
"Helft mir, ir tugenthafter man,„Helft mir, Ihr rechtschaffener Mann,
Hie von des teuffels pilde!"Dem Ebenbild des Teufels hier zu entkommen!”
Das merwunder hub sich darvonDas Meerungeheuer machte sich auf und davon
60Und het sich schir verkrochen.Und hatte sich sogleich verkrochen.
ADo sprach der furst so wol getan:Der vornehme Fürst sagte:
"Fraw, was hat euch geprochen,„Edle Dame, was fehlt Euch,
Das ir so iemerlichen schreit?Dass Ihr so erbärmlich klagt?
Sagt mir ewr not und all ewr clag.Erzählt mir von Eurem Leid und all Eurer Not.
65Kan ich, ir wert von mir gefreit."Wenn ich es kann, so errette ich Euch daraus.”
 
Do sprach die fraw gar wol getan:Da erwiderte die sehr schöne Dame:
A"Ach her, ich was in dissen tan„Ach Herr, ich war in diesen Wald
ADurch kurzweil her gegangen.Gegangen, um mir die Zeit zu vertreiben.
Do kom ein graussamlicher degen,Da stürzte sich ein schreckliches Ungetüm auf mich,
70Der hat gewalcz hie mit mir pflegen.Das mir hier Gewalt angetan hat.
Mir wart nie zeit so langen.Die Zeit schien mir still zu stehen.
Nun hat euch got wol her gesant,Nun hat Gott Euch zur Rettung her gesandt,
Es wer gewest mein ende!Ansonsten wäre es mein Ende gewesen!
ADo ir komt, der teuffel verschwantAls Ihr aufgetaucht seid, ist der Teufel
75Von mir also behende.Schnell von mir geflüchtet.
Und wert ir mir zu trost nit kumen,Aber wenn Ihr mir nicht zu Hilfe gekommen wärt,
Ich mein, das teuffellische pildGlaube ich, dass das teuflische Ungeheuer
AHet mir mein leben gar genumen.Mir das Leben genommen hätte.
 
Des ist bekumert hie mein sin."Deshalb bin ich noch ganz betrübt.”
80Er sprach: "wo ist der teuffel hin?Er erwiderte: „Wo ist der Teufel denn hin?
fur war, ich wolt euch rechen.Wahrlich, ich möchte Euch rächen.
Und das ich in mocht kumen an,Falls ich ihn erwischen könnte,
Sein leben must er mir hie lanMüsste entweder er sein Leben lassen
Oder must mir meins prechen.Oder mir meines nehmen.
85Nun sagt mir, werde fraw so zart,[Bl. 194v]Nun sagt mir (schon), edle zarte Dame,
Und wo er hin sey kumen."Wo er hin geflüchtet ist.”
Do sprach die fraw von hoher art:Daraufhin antwortete die vornehme Dame:
"Des hab ich nit vernumen„Das habe ich nicht mitbekommen,
Und wo der teuffel kumen ist.Wo der Teufel hin ist.
90Ich mein, er sey im wildem mer,Ich schätze, er ist in das tobende Meer (zurück),
Dar in sein wanung ist al frist."Dorthin, wo er ansonsten immer lebt.”
 
Do sprach der edel furst so zart,Da sagte der edle schöne Herr,
Der was ein here in Lampart:Der in der Lombardei herrschte:
"So zichet mit mir heime„Dann kommt mit mir heim,
95Und al ewr sorg die sey gelegen.Und all Eure Sorge sei vergessen.
Man sol ewr tugentlichen pflegenMan wird sich vorbildlich um Euch kümmern,
Als zarten frawen reine."Wie es einer schönen, anständigen Dame gebührt.”
Sie sprach: "mein her, des danck euch got,Sie entgegnete: „Mein Herr, Gott belohne Euch dafür,
Edler her so lobesane.Ihr edler ruhmreicher Herr.
100Det ichs verleit, so sturb doch dotBeklagte ich es, so würde doch
Doheym mein lieber mane.Zuhause mein lieber Mann sterben.
Do ich heut morgen von ym ging,Als ich mich heute Morgen von ihm verabschiedete,
Doch gab er mir lieblich sein kuss,Gab er mir noch liebevoll einen Abschiedskuss,
Mit armen schon er mich umbfing.Und umarmte mich zärtlich.
 
105Ich kan sein nymer mer verclagen,Ich kann es niemals mehr verschmerzen,
Das ich mich tet so vere wagenDass ich mich so weit hierher
Her in die grunen awen,In die grüne Aue gewagt habe,
Das ich mein er verloren han.Dass ich meine Ehre verloren habe.
Ich mein, auf erden nie kein manIch glaube, dass auf Erden kein Mann
110Gewan als lieb ein frawenJemals eine Frau so sehr
Als mych mein her in ganczer liebVon ganzem Herzen liebgewonnen hat,
Het lieb von ganczem herczen.Wie mich mein Gatte liebte.
Nun hot der teuffellische diebNun hat der teuflische Dieb,
Gemert mein leid und schmerczen,Der mir meine Ehre genommen hat,
115Der mir mein er genumen hot.[Bl. 195r]Mein Leid und meine Schmerzen vermehrt.
Und wirt sein yn mein lieber her,Erfährt davon mein lieber Gatte –
Ich sprich fur war, so stirbt er dot."Ich sage es, wie es ist – so stirbt er.“
 
K"Ach fraw, nun lat ewr senes clagn,„Ach, meine Dame, nun lasst Euer schmerzerfülltes Klagen,
Do von do sol man nymant sagen,Darüber soll man niemandem ein Wort sagen,
120Ir wurd der sach beczwungen.(Denn) Ihr wurdet vergewaltigt.
Wolt ir, ich gib euch gut geleit,Wenn Ihr es wünscht, dann gebe ich Euch sicheres Geleit,
Pis ir kumpt in ewr sicherheit.Bis Ihr (wieder) in euer Refugium gelangt.
Hot es euch mysselungen,Wenn es Euch schlecht ergangen ist,
So secht euch furpas eben furSo seht Euch beim nächsten Mal sorgsam vor
125Und tut nit mer spaczirenUnd spaziert nicht mehr
Allein für ewres hausses tur,Allein vor der Tür Eures Hauses,
KSo pleibt ir wol pei wiren.Dann bleibt Ihr gewiss unversehrt.
Das sol euch sein ein warung gutDies soll Euch eine gute Maßregel sein:
Und get nit furpas in den hag,Geht nicht weiter ins Grüne hinaus,
130Ir wist den, das ir seit behut."Außer Ihr wisst, dass Ihr behütet werdet.“
 
Die aussderwelte fraw gemeitDer adelige Fürst geleitete
Der edel furste heim beleitDie außerordentlich hübsche Dame
Pis an ir gut gewere.Bis an die Grenze ihres Anwesens nach Hause.
Die fraw die was betrubet ser,Die Dame war sehr betrübt,
135Wan sie gedacht wol an ir er,Denn sie dachte immerzu an ihre Ehre.
Ir hercz das was ir schwere.Ihr Herz wurde ihr schwer.
Das gunt mercken der kunck lobsan,Der lobenswerte König bemerkte,
Das sie was ser betrübet.Dass sie sehr betrübt war.
Er sprach: "zart fraw, was ligt euch an,Er sprach: „Liebreizende Gattin, was bedrückt Euch,
140Das ir in leit euch ubet?Dass Ihr Euch (so sehr) im Leid übt?
Was pricht euch, was ist euch geschechen?Was fehlt Euch, was ist Euch geschehen?
Die weil ir habt gewant pei mir,[Bl. 195v]Solange Ihr bei mir gewohnt habt,
AHab ich euch so trawrig nie gesehen."Habe ich Euch noch niemals so traurig gesehen.“
 
ADie fraw die sprach: "trawt here mein,Die Dame sprach: „Mein lieber Herr,
145Ir sult eins guten mutes sein,Ihr mögt guten Mutes sein,
Und mir gewiret nichte."Mir fehlt nichts.“
Sie tet, als sie der here lert,Sie tat, wie ihr der Herr geraten hatte,
ADer sie vom teuffel het dernertDer sie vor dem Teufel
AAus iemerlicher pflichte.Aus furchtbarer Bedrängnis gerettet hatte.
150KGar dick sie do erseuffen gundSehr oft seufzte sie nun,
Und wo sie was alleine.Wenn sie allein war.
ADas merckt ir her zu manger stundDas bemerkte ihr Gatte zu mehreren Malen
Von seiner frawen reine.An seiner reinen Ehefrau.
Wie vil der her sie darumb fragt,(Doch) wie oft sie der Herr deswegen auch fragte,
155So wolt sie in betruben nicht,Wollte sie ihn nicht betrüben,
Das sie ym do von nichcz nit sagt.So dass sie ihm darüber gar nichts erzählte.
 
Doch wart wachssen der frawen leib,Jedoch schwoll der Körper der Frau an,
Als noch hie tun die zarten weib,Wie es auch bei uns den jungen Frauen geschieht,
Wen sie sein schwanger worden.Wenn sie schwanger geworden sind.
160Darnach sie do ein kint gepar.Anschließend gebar sie ein Kind.
Sein haut die was mit schwarczem harSeine Haut war voller schwarzer Haare,
AGeleich der peren orden.Wie es bei Bären der Fall ist.
Der her und auch die fraw erschrack,Der Herr und auch die Dame erschraken,
Do sie das kint an sahen.Als sie das Kind ansahen.
165Der her sprach: "was das deuten magk -Der Herr sprach: „Was kann das bedeuten –
Ob mich got wil verschmahen?Will Gott mich verachten?
Desgleich ich nie gesehen han,So etwas habe ich noch nie gesehen,
Wan das kint ist rauch als ein per,Denn das Kind ist ja behaart wie ein Bär,
Sein augen rot und schwarcze gran."Seine Augen sind rot, und es hat schwarze Barthaare.“
 
170Das kint zoch man gar lobesam [Bl. 196r]Das Kind erzog man auf vortreffliche Weise,
Pis es zu czwelff iaren kam.Bis es zwölf Jahre alt wurde.
Do nam es zu mit krafte,Da gewann es (derart) an Kräften,
Das nymant mocht vor ym bestan.Dass ihm niemand standhalten konnte.
Vil manig werder kuner man,Sehr viele angesehene und kühne Männer
175Der wart von ym gestrafte,Wurden von ihm gezüchtigt,
Das iderman den teuffel flohSo dass jedermann vor diesem Teufel
Und seinen grimen zoren.Und seinem grimmigen Zorn floh.
Wer sich mit vechten gen ym zochWer antrat, gegen ihn zu fechten,
Und der must sein verloren.Der war gewiss verloren.
180Darumb so floch in iungk und alt.Deshalb flohen Jung und Alt vor ihm.
Er wolt den kungk vertreibenEr wollte den König mit Gewalt
Von seinen landen mit gewalt.Aus seinen Landen vertreiben.
 
AGrosser untat er sich annam,Schlimme Verbrechen beging er:
Was er der iunckfrawen ankom,Wahrlich, alle Jungfrauen, deren er habhaft werden konnte,
185Die schwecht er alle czware.Schändete er.
Gar heimelleich so tet er dasEr tat das ganz im Geheimen
Und darnach ers zu speise as,Und verzehrte sie danach,
Das man vil iunckfraw clareSo dass viele schöne Jungfrauen
Verlas wol in des kunges reich,Im Reich des Königs verloren gingen,
190Dye er al het gefressen.Die er alle gefressen hatte.
Betreübet wart der kungk geleich,Entsprechend wurde der König darüber betrübt,
Das er sich het vermessenDass er (der Sohn) sich angemaßt hatte,
Zu schwechen vil der iunckfrawen her,Viele der wunderschönen Jungfrauen zu schänden
Die er heimlichen alle frass,Und heimlich alle zu fressen,
195Das man ir keine gesah nit mer.So dass man keine von ihnen mehr zu Gesicht bekam.
 
Der edel kunig ausderkornDer ausgesprochen herrliche König
Het mank schone magt verlornHatte sehr viele schöne Jungfrauen
AWol von dem argen wichte.Durch das bösartige Wesen verloren.
Und sprach zu ym: "werstu mein sun,[Bl. 196v]Er sprach zu ihm: „Wärst Du mein Sohn,
200So solstu adellicher tun.Müsstest du adliger handeln.
Dein weis gefelt mir nichte.Deine Verhaltensweise gefällt mir nicht.
Werstu von adellichem stamWärst du von adliger Abstammung,
So testu pas geparen."Verhieltest du dich besser.“
Do der teuffel die wort vernam,Als der Teufel diese Worte hörte,
205Das tet ym also zoren,Verursachte ihm das derartigen Zorn,
Das er dem kunig trug gros has.Dass er den König sehr hasste.
Er wolt den vater toten,Er wollte den Vater töten,
Wen er verpringen mochte das.Wenn er es zustande bringen könnte.
 
Dem edlen kung vor etlich iarnDem edlen König hatte seine Frau vor etlichen Jahren
210Het ym sein weib ein sun geparn.Einen Sohn geboren.
Der was starck, frum und kuneDer war stark, tapfer und mutig
Und ym man grosse ere seit.Und man zollte ihm große Ehre.
Dem trug der panckhart has und neitGegen ihn hegte der Bastard Hass und Neid,
AWol umb sein er und schune.Wegen seiner Ehre und Schönheit.
215Der panckhart stellet nach seim lebenDer Bastard trachtete dem Vater
Dem vater und dem sune.Und dem Sohn nach dem Leben.
Er tet ser nach dem kunckreich strebn.Er strebte sehr nach dem Königreich.
KEr wolt in den tot tuneEr wollte sie umbringen
Und er wolt selber here sein.Und selber Herrscher sein.
220Darumb vil mancher werder manDeswegen erlitten sehr viele ehrenwerte Männer
Von ym kom in des dotes pein.Durch ihn einen qualvollen Tod.
 
Do der vater und sein sun sach,Als der Vater und der Sohn bemerkten,
Das er in also stellet nachDass er ihnen in dieser Weise nachstellte,
Wol umb ir peider leben,Um sie beide umzubringen,
225Do sprach der vater zu seim sun:Da sagte der Vater zu seinem Sohn:
"Dein pruder wirt uns den todt tun„Dein Bruder wird uns umbringen,
Und hut wir uns nit eben.Wenn wir uns nicht ganz besonders hüten.
Mich dunckt nit, das er mein sun sey,Ich glaube nicht, dass er mein Sohn ist,
Das er uns wil derstechen.[Bl. 197r]Wenn er uns erstechen will.
230Was wil der arge teuffel freyWas will der üble, zuchtlose Teufel
Hie an uns peiden rechen,Hier an uns beiden rächen,
Das er uns pringen wil in not?Dass er uns (derart) in Not bringen will?
AKEin sin woln wir wol finden,Wir wollen uns wohl einen Plan ausdenken,
Das er mus selber ligen dot."Dass er selbst zu Tode kommt.“
 
235Der vater sprach zum sun gar schan:Der Vater sprach zu dem bildschönen Sohn:
"Wir haben manchen werden man.„Wir haben viele ehrenwerte Männer.
Las wir ein mit ym streiten,Lassen wir einen mit ihm kämpfen,
Wan er gros lieb zu morden hat.Denn er hat großes Wohlgefallen daran, zu morden!
Ob ein man in precht in not,Wenn ein Mann ihn zu Fall brächte,
240Der solt zu allen czeitenSollte er zu allen Zeiten
Pei uns der peste sein genantBei uns als der Beste
Ob allen werden fursten."Von allen erlesenen Fürsten bezeichnet werden.“
Do das manck werder man bekant,Als viele kühne Männer dies erfahren hatten,
Die gunt nach eren dürsten.Dürsteten sie nach Ehre.
245Itlicher sprach: "traut here mein,Ein jeder sprach: „Mein lieber Herr,
Wes ir von mir begeret,Was (auch immer) Ihr von mir verlangt,
Des wil ich euch hie dinsthaft sein."Damit will ich Euch hier dienen.“
 
ADie werden held gar wunesam,Die ehrenwerten, beeindruckend aussehenden Helden
AWaren dem rawen alle gram,Waren dem Behaarten alle feind
250Wol umb sein ubel mute,Wegen seiner üblen Gesinnung,
Das er vil werden manchen manDa er vielen ehrenwerten Männern
Het den pitern tod gethanDen bitteren Tod gebracht
Und vergossen het sein plute.Und ihr Blut vergossen hatte.
Die wolten sie nun rechen al,Die wollten sie nun alle rächen,
255Darumb komens zu noten.Dadurch stürzten sie sich ins Verderben.
AWol funfzick man pracht er zu fall,Wohl fünfzig Männer brachte er zu Fall,
Die er all gunte toten,Die tötete er alle.
Die er all nacheinander dot schlug.[Bl. 197v]Die er alle nacheinander totschlug,
Der man ye ein nach dem andernDie trug man je
260Also dot hin zum grabe trug.Einen nach dem anderen zu Grabe.
 
Do wolt in nymant mer bestan.Da wollte niemand mehr gegen ihn antreten,
In schewet mancher werden man,Viele ehrenwerte Männer scheuten ihn,
Die teten vor ym flichen,Sie flohen vor ihm,
Wol vor dem teuffel ungehewr.Dem teuflischen Ungeheuer.
265Dem kung dem wurd freude teur.Dem König wurde Freude selten.
AAuf sein pest schlos do gunt er czichen,Er zog auf sein bestes Schloss.
Dasselbig schlos das spert er zuDieses Schloss verriegelte er
Vor dem schewchslichen kunder.Vor dem scheußlichen Untier.
Der arge teuffel het kein ru.Der schlimme Teufel gab keine Ruhe.
270KNun mügt ir horen wunder:Nun könnt ihr Staunenswertes hören:
AEr scheuchet weder pfeill noch gschos,Er scheute weder Pfeil noch Geschoss,
Des schlosses tor das stis er aufDas Schlosstor stieß er auf
Mit einem mordiglichen stos.Mit einem mörderischen Stoß.
 
Die weil het sich gewapet anIn der Zwischenzeit hatten sich
275Der kung, der sun und die fraw schonDer König, der Sohn und die schöne Frau
In stahel und yn eissen.In Stahl und in Eisen gewappnet.
Der kung sprach: ›nun helffet mir,Der König sprach: „Nun helft mir,
ADas wir toten das arge tir;Damit wir das furchtbare Tier töten können;
Dar umb wirt man uns preissen.Dafür wird man uns preisen.
280Ob ich das thir gemachet han,Dass ich das Untier gezeugt habe,
Des kan ich nit gelauben.Das kann ich nicht glauben.
Er ist der teuffel weideman,Er ist der Jäger der Teufel,
Er wil uns hie beraubenEr will uns hier
Des kunigreichs, merket eben.Des Königreichs berauben, seid Euch dessen bewusst.
285Darumb wil er uns pringenDeswegen will er uns alle drei
Alle drey umb unsser lebn.Um unser Leben bringen.“
 
Der rauch kom zu in in den sall[Bl. 198r]Der Behaarte kam zu ihnen in die Halle,
KUnd schlug auf sie gar unczalUnd schlug auf sie
Der starcken schleg so schwere.Mit unzähligen starken Schlägen sehr hart ein.
290Der vater und sein lieber sunDer Vater und sein lieber Sohn
Die teten, was sie mochten tun.Taten, was sie zu tun vermochten.
Die edel kungin here,Die edle und vortreffliche Königin,
Die edel kungin hoch genantDie edle, hoch gepriesene Königin
Die lies sich nit verdrissen.War unermüdlich.
295ASie het ein pogen in der hant,Sie hatte einen Bogen in der Hand,
Do mit do gund sie schissenMit dem schoss sie
In den rauchen vil manchen pfeil.Sehr viele Pfeile in den Behaarten.
Doch schlug er tiffe wundenDoch er schlug in der Zwischenzeit
Dem vater und dem sun die weil.Dem Vater und dem Sohn tiefe Wunden.
 
300Die muter vil pfeil in in schosDie Mutter schoss viele Pfeile in ihn,
Und das vil plutes aus ym flos,So dass viel Blut aus ihm floss,
Das es schwam auf dem salle.Und auf dem Boden der Halle schwamm.
ADer vater und der sun do mitDer Vater und der Sohn
Ym manche tiffe wunden schrit,Schnitten ihm dabei viele tiefe Wunden,
305Das er tet einen falle.So dass er stürzte.
Der vater und sein lieber sunDer Vater und sein lieber Sohn
Sich an dem rauhen rachen.Rächten sich an dem Behaarten.
Der stiche heten sym vil tun,Viele Stiche hatten sie ihm beigebracht,
Pis das sie in derstachen.Bis sie ihn erstochen hatten.
310Darzu halff yn das werde weib,Dabei half ihnen die ehrenwerte Frau,
KUnd das do wart erneret wolSo dass die drei hiermit
Hie vor dem tod der dreyer leib.Vor dem Tode gerettet wurden.
 
Do nun der rauche lage tot,Als nun der Behaarte tot da lag,
AKDer kunck sprach: "fraw, nun sagt dur got,Sprach der König: „Herrin, nun sagt bei Gott,
315Wie habt ir in enpfangen?[Bl. 198v]Wie habt Ihr ihn empfangen?
Das sagt uns sicherlichen eben,Das erzählt uns ganz genau,
Es sol euch alles sein vergeben,Es soll Euch alles vergeben sein,
Ob ir het myssegangen."Solltet Ihr einen Fehltritt getan haben.“
Die fraw die sprach: "mein lieber her,Die Dame antwortete: „Mein lieber Herr,
320Last mich pei ewrer hulde!Lasst mich in Eurer Huld!
Ich gynng spacziren nit gar fer,Ich bin spazieren gegangen, nicht zu weit,
Do durch kom ich in schulde.Dadurch habe ich mich schuldig gemacht.
Do fing mich also graussamlichDa fing mich aufs grausamste
Ein schewchssliches merwunderEin scheußliches Meerwunder
325Und das det ser beczwingen mich."Und es vergewaltigte mich (äußerst) brutal.“
 
Der kung der sprach: "trawt frawe mein,Der König sprach: „Meine geliebte Ehefrau,
Das sol euch gar vergeben sein,Das soll Euch gänzlich vergeben sein,
Seit ir sein wurt beczwungen.Da Ihr dazu gezwungen worden seid.
ANun sagt mir, ob es euch zym,Jetzt erzählt mir, wenn es Euch beliebt,
330Und wie ir kumen seit von ymWie Ihr ihm entkommen seid,
Und do es euch mislungen?"Als Euch das Unglück zugestoßen ist?“
K"Ich sach ew sicherlich fur war:„Ich sage Euch die volle Wahrheit:
Ein her der gunt herczichen.Ein Edelmann kam vorbeigeritten.
Ich ruft in an mit noten gar,Ich rief ihn an in großer Not;
335Das merwunder gunt flichen.Das Meerwunder machte sich auf und davon.
Der her der half mir do aus notDer Herr hat mir da aus der Not geholfen
Und tet mich heim beleiten.Und mich nach Hause begleitet.
Des sol ym ymer dancken got."Das soll ihm Gott immer danken.“
 
"Ir ausderwelte fraw so fein,„Ihr ausgesprochen schöne Dame,
340Und mocht es noch pei leben sein,Wenn es noch am Leben wäre,
Das selbig merewunder,Dieses Meerwunder,
So wolt senden ich euch do hin,So wollte ich Euch dahin schicken –
Ob noch zu euch ym stund sein syn,[Bl. 199r]Wenn ihm immer noch der Sinn nach Euch stünde –
Das wir das scheuchslich kunderSo dass wir das scheußliche Untier
345Auch mochten toten zu der stund,Ebenfalls bei dieser Gelegenheit töten könnten
Und das ir wurt gerochen.Und Ihr gerächt würdet.
AKDodurch so wurd mir freude kuntDadurch erführe ich Freude
Und als mein leit zuprochen."Und all mein Leid verginge.“
Die fraw die sprach: "des weis ich nicht.Die Dame antwortete: „Das weiß ich nicht.
350Ich tu was ir gepitet,Ich werde tun, was Ihr gebietet,
Was mir halt darumb geschicht."Was immer mir dadurch geschieht.“
 
Er sprach: "zart fraw, so get so drat,Er sprach: „Anmutige Dame, so geht sogleich dorthin,
Do euch der arg genotet hat,Wo Euch der Furchtbare in Not gebracht hat,
So wil ich und mein suneSo wollen ich und mein Sohn uns
355Verporgen ligen auch dopei.Auch dort verstecken.
AWir wollen trewlichen sten euch frei,Wir werden Euch treu zur Seite stehen,
Das er euch nichcz mag tune."So dass er Euch nichts tun kann.“
Die fraw legt an ir zirlich watDie Dame legte ihr hübsches Gewand an,
AMit schonheit manigfaldeVielfältig schön geziert,
360Und ging dar zu des meres flut.Und ging zum Meer.
Das merwunder kom palde.Das Meerwunder erschien kurz darauf.
Do heten sich verporgen schonDa hatten sich
Der vater und sein lieber sun;Der Vater und sein lieber Sohn bereits verborgen;
Das merwunder in nit entran.Das Meerwunder entrann ihnen nicht.
 
365Sie fingen do das merwunder.Sie überwältigten da das Meerwunder.
Do sprach die edel fraw so her:Da sprach die edle, äußerst vornehme Dame:
"Ich wil mich an ym rechen!"„Ich will mich an ihm rächen!“
Und sie nam ires heren schwert.Und sie nahm das Schwert ihres Gatten.
Sie sprach: "des han ich lang begert,Sie sprach: „Das habe ich mir lange gewünscht,
370Das ich dich sol derstechen.Dass ich dich erstechen werde.
Du hast betrubet mir den sin[Bl. 199v]Du hast mich unglücklich gemacht
Aund pracht zw grossem grawen."Und mir großes Grauen bereitet.“
Das schwert das stach sie dick durch yn.Sie stach mehrmals das Schwert in ihn.
Sie sprach: ›du solt kein frawenSie sprach: „Du sollst niemals mehr Frauen
375Nimer pringen in solche not!‹In solche Not bringen!“
Das swert das stach sie dick durch in,Das Schwert stach sie (so) oft durch ihn,
Pis das er vor ir lage dot.Bis er tot vor ihr lag.
 
Do sprach der kunig und sein sun:Da sprachen der König und sein Sohn:
A"Fraw, ir habt euch gerochen nun,„Herrin, nun habt Ihr Euch gerächt,
380Ir solt nun gar fro seine.Ihr könnt nun ganz erleichtert sein.
Und habt furpas ein guten mutUnd seid künftig guten Mutes,
Und nimer also torlich tutHandelt nicht mehr so leichtsinnig,
Und das ir get alleineDass Ihr künftig allein
Spacziren furpas an das mer,An das Meer spazieren geht.
385So mag euch nit misslingen.Dann kann Euch nichts Schlimmes passieren.
ASein sun het manchen helt so herSein Sohn hat manchen sehr tapferen Helden
Hie umb sein leben pringen.Hier um sein Leben gebracht.
Auch wolt er uns han pracht in not,Auch uns wollte er in Bedrängnis bringen,
Doch hat uns got geholffen,Doch Gott hat uns geholfen,
390Das sie von uns peid ligen dot."Dass sie beide durch uns tot da liegen.“
 
Do czugen sie mit freuden heinDa zogen sie mit Freuden heim,
Der kunck, der sun, die fraw so reinDer König, sein Sohn und die makellose Dame
In also hohen eren.Mit überaus großer Ehre.
Die sach die plib also verschwign,Die Angelegenheit blieb gänzlich verschwiegen,
395Die fraw wart keiner uner czigen.Die Dame wurde keiner Unehre bezichtigt.
Dopei so nemet lere,Daraus zieht die Lehre,
AKDas man in solchen sachen seiDass man in solchen Angelegenheiten
Verschwigen und getrewe.Verschwiegen und treu sein muss.
KWer das dut, der ist eren freiWer sich so verhält, der erhält sich seine Ehre (?)
400Und pringet im kein rewe.Und es bringt ihm keine Reue.
AWan es ist der welt sit also,Denn es ist auf der Welt nun einmal so,
Das mancher hie auf erden istDass mancher hier auf Erden
KDes seinen nechsten ungluck fro.Froh über das Unglück seines Nächsten ist.

4: ein
5: wusch
7: genungt
40: vor beleib gestr. schlug
48: und fehlt (Konjektur)
54: gunt schwer lesbar, ggf. gomt
61: fursch
67: Ach korr. aus Ich
68: kurweil
74: komp
78: mein fehlt (Konjektur)
143: trawig
143: nie fehlt (Konjektur)
144: hinter trawt gestr. fraw
148: von
149: iemerliche
152: merck
162: orden: r über der Zeile nachgetragen
183: nam korr. aus nom
198: den
214: vor sein er gestr. sein
233: wol
248: wunesam: e über n nachgetragen
249: Warem
256: funfick
256: prach
256: hinter prach gestr. ens
266: Auf: u über A, wohl nachgetragen
271: wider
278: toten: zweites t unleserlich
295: heten
303: der₂] dem
314: dar
329: es über der Zeile nachgetragen
347: freude fehlt (Konjektur)
356: ungestrichenes p vor euch
359: vor falde gestr. fah
372: und... grawen: Vers über der Zeile nachgetragen und eingewiesen
379: habp
386: het pringen: Kofler konjiziert: tet pringen. Mit Blick auf V. 70 ist flektiertes Modalverb plus Infinitiv aber möglich.
397: sache fehlt (Konjektur)
401: hinter sit gestr. e

7: ir: Kofler: in
18: Luneria: nicht identifizierbare Ortsangabe, vgl. Fichtner, S. 226
30: Er: constructio ad sensum, da merwunder stn, das natürliche Geschlecht des Meerwunders aber männlich ist. Vgl. V. 243f.
48: pis zu wis: Imperativ Sg., stv.: ›Sei‹
48: und: Konjektur aus metrischen und inhaltlichen Gründen; Fuchs, Kofler verzichten auf Konjektur.
118: senes clagn: senes zu adj. senec: ›schmerzlich‹
127: wire wohl zu swf. wirde (dann Reimhärte?), evtl. nicht belegte Ableitung von wirekeit, stf. ›Gesunderhaltung‹
150: erseuffen: Kofler konjiziert: erseufzen
218: tune: Kofler: tane
233: woln: Konjektur mit Kofler
270: Kofler liest: heren
288: unczal: Fuchs, Kofler lesen: une zal Kofler konjiziert: ane zal
311: Und: hier 'so', auch V. 346
311: erneret wol: Kofler zählt wol gegen die Handschriftenrubrizierung zum Folgevers.
314: dur: Konjektur mit Kofler
332: ew: Fuchs, Kofler lesen: ein
347: freude: Konjektur mit Kofler
397: sache: Die Konjektur erfolgt aus metrischen und inhaltlichen Gründen. Der Verfasser neigt zudem zu S-Alliterationen, vgl. etwa V. 289. Fuchs verzichtet auf eine Konjektur. Kofler konjiziert: solchen dingen
399: Kofler konjiziert: +nit eren frei
403: Kofler konjiziert: unglucks