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Einführung

Einführung

In der 1472 entstandenen Sammelhandschrift Mscr. M 201 der Dresdner Landesbibliothek, dem berühmten ‚Dresdner Heldenbuch‘, findet sich zwischen zahlreichen, ungleich prominenteren heldenepischen Dichtungen wie dem ‚Laurin‘, ‚Ortnit‘ und ‚Wolfdietrich‘ oder dem ‚Eckenlied‘ auf Bl. 193r–199v die recht kurze, in der Forschung eher selten betrachtete Erzählung vom ‚Meerwunder‘.1 Dieser in 31 Strophen des Bernertons verfasste Text ist allein im ‚Dresdner Heldenbuch‘ überliefert – ein für diese Handschrift eher ungewöhnlicher Überlieferungsbefund.2
Das ‚Meerwunder‘ hat – kurz gefasst – den folgenden, durchaus spektakulären Inhalt:

Die Frau eines lombardischen Herrschers wird, allein am Strand laufend, von einem scheußlichen Meerwunder vergewaltigt. Als sich daraus eine Schwangerschaft ergibt, verschweigt sie ihrem Mann deren nähere Umstände, so dass der Bastard, welcher dem leiblichen Vater in jeder Hinsicht ähnelt, zunächst als Sohn des Königs gilt. Er wächst heran und verhält sich immer grausamer: Er schändet und frisst Frauen, tötet Männer und führt schließlich einen Mordanschlag auf die Familie des Königs aus, um das Königreich an sich zu reißen. Doch der Angriff schlägt fehlt und endet mit dem Tod des Bastards. Nachdem die Frau ihrem Gatten die wahre Begebenheit der Zeugung gestanden hat, benutzen der König und sein leiblicher Sohn sie als Lockvogel: Sie begibt sich wiederum ans Meer, und das abermals auftauchende Meerwunder kann getötet werden. Die Ehre der Königin bleibt dabei gewahrt.

Auch über den Inhalt und die Überlieferungssituation hinaus ist dieser Text zumindest insofern bemerkenswert, als mit ihm ein mindestens drei Generationen überdauerndes Eigenleben der Erzählung vom Bastard und seinem monströsen Vater aus dem Meer greifbar wird, welches sich regional auf die Stadt Nürnberg und ggf. ihren Umkreis beschränken lässt. Neben dem anonymen ‚Meerwunder‘, dessen Überlieferungsträger im Nürnberger Raum für den Herzog von Mecklenburg angefertigt wurde, sind zwei Gedichte des Nürnberger Meistersängers Hans Sachs (1494–1576) aus der Mitte des 16. Jahrhunderts überliefert, ferner existiert ein mit ‚das merwunder‘ beschrifteter Kupferstich des Nürnberger Künstlers Albrecht Dürer (1471–1528) aus dem Jahre 1498.3

Dürer: das merwunder

Dieses Kunstwerk weist in seinem Bildinhalt zwar keinen unmittelbaren Bezug auf die Handlung des ‚Meerwunders‘ gemäß Heldenbuch-Überlieferung auf, zeigt aber ein frauenraubendes Meerungeheuer in der Nähe eines Gestades und einer Burg. Da Dürer sich auch ansonsten Freiheiten nahm, literarische Vorlagen in seiner Druckgrafik eigenständig umzusetzen,4 liegt es jedenfalls nicht fern, den Kupferstich als Adaptation des zu dieser Zeit in Nürnberg präsenten Erzählstoffs anzusehen. Dies soll im Folgenden allerdings nicht näher erörtert werden, liegt doch das Untersuchungsinteresse des Beitrags auf der literarischen Verarbeitung des Stoffs.
Ziel dieses Beitrags ist es, auf die in mancherlei Hinsicht abseitigen ‚Meerwunder‘-Texte aufmerksam zu machen. Wesentlich erscheint uns zunächst, eine Textgrundlage zu schaffen, die Anschluss für vielfältige Überlegungen bietet, etwa zur jeweiligen Genese und zur Beziehung der Sachs-Gedichte zur Heldenbuch-Erzählung, ferner genealogische, psychologische, kulturhistorische, stadt- oder gattungsgeschichtliche Untersuchungen. Hierfür wollen wir die für unser Vorhaben besonders geeigneten Möglichkeiten einer digitalen Edition nutzen, um die Texte erstmals nebeneinander betracht- und verfügbar zu machen. Darüber hinaus bietet dieser Beitrag weitere Handreichungen, die eine praktikable Benutzung der Texte ermöglichen sollen: Wir legen einen kurzen Forschungsüberblick mit Darstellung der bisherigen Editionen und ihrer Prinzipien vor, ferner werden die Handschriften beschrieben sowie unsere Editionsprinzipien aufgeführt. Die Digitalisate der Handschriften sind zudem in den jeweiligen Editionstexten parallel zuschaltbar.

Forschungsüberblick und Vorgängereditionen

Das ‚Meerwunder‘ und seine Adaptationen durch Hans Sachs haben in der altgermanistischen Forschung insgesamt wenig Beachtung gefunden. Die wichtigsten Forschungsschwerpunkte seien kurz herausgestellt.
Die im ‚Dresdner Heldenbuch‘ überlieferte ‚Meerwunder‘-Erzählung wurde vor allem wegen ihrer vorgeblichen „Gattungsfremdheit“ innerhalb des Heldenbuchs näher betrachtet und hinsichtlich der Frage nach ihrer eigenen Gattung untersucht.5 Daneben setzte sich insbesondere die ältere Forschung mit einer möglichen literarhistorischen Verbindung zwischen dem Meerwunder-Stoff und der Abstammungssage der Merowinger auseinander,6 die laut der sog. ‚Chronik‘ des Fredegar von einer übernatürlichen Zeugung des Stammvaters Merowech durch ein stierköpfiges Meeresungeheuer erzählt.
Die beiden Bearbeitungen durch Hans Sachs regten vor allem Fragen nach Abhängigkeiten derselben von der ‚Meerwunder‘-Erzählung des ‚Dresdner Heldenbuchs‘ sowie von möglichen anderen Quellen an, wobei besonders die von Sachs hinzugefügten Namen diskutiert wurden.7

Die editio princeps des ‚Meerwunders‘ findet sich bei Friedrich Heinrich von der Hagen und Alois Primisser, die ‚Der Helden Buch in der Ursprache‘ ediert und im Zeitraum von 1820–1825 in zwei Teilen veröffentlicht haben.8 Die Edition entspricht nicht den heutigen Standards; so sind offensichtliche Fehler teils stehen gelassen, durch Alternativen in Klammern ergänzt oder ohne Kennzeichnung korrigiert worden. Ein kritischer Apparat fehlt.
Eine weitere Edition des ‚Meerwunders‘ stammt von Edward Fuchs, veröffentlicht 1940 in der Zeitschrift ‚Modern Philology‘.9 Es handelt sich um einen buchstabengetreuen Abdruck des Handschriften-Textes ohne jegliche Korrekturen, lediglich die Abkürzungszeichen sind aufgelöst und die Strophen nummeriert.
Die bisher jüngste Edition des ‚Meerwunders‘ ist in Walter Koflers Ausgabe des ‚Dresdner Heldenbuchs‘ von 2006 zu finden.10 Koflers Edition besteht aus einer Textausgabe und einem Digitalfaksimile auf CD-ROM. Sie entspricht modernen Standards (u.a. textkritischer Apparat, Kennzeichnung der Herausgebereingriffe im Editionstext, Anpassung des Schriftbilds an moderne Lesegewohnheiten); eine neuhochdeutsche Übersetzung ist ihr nicht beigegeben.
Hans Sachs‘ früheres Meerwunder-Gedicht, ‚Die kunigin peschlieff ein merwunder‘, liegt in einer Ausgabe von Karl Goedeke aus dem Jahr 1870 vor. Es handelt sich um einen unkritischen, gemäß den Lesegewohnheiten des 19. Jahrhunderts eingerichteten Editionstext, der im Apparat einige Verständnishilfen bietet. Das zweite Gedicht ist in einer Sachs-Ausgabe von Keller und Goetze aus dem Jahr 1886 ediert.12 Ein kritischer Apparat ist dem Editionstext nicht beigegeben; Aussagen über eventuelle Eingriffe der Herausgeber sind uns, wie erwähnt, nicht möglich.


Besonderen Dank schulden wir Dr. Derk Ohlenroth (Tübingen) für seine umfangreichen Hinweise zu Texteinrichtung und Übersetzung.


Anmerkungen

1 Zur Forschung s. den eigenen Passus unten.

2 Ob der Text womöglich erst für das ‚Dresdner Heldenbuch‘ verfasst wurde, wird sich schwerlich nachweisen lassen. Es liegt zumindest nicht ganz fern, in diesem Gedicht ein Cento im Dresdner Manuskript gängiger Motive der Heldenepik zu sehen, wie etwa des lombardischen Settings der Handlung oder des titelgebenden Meerwunders.

3 Eine deutlich jüngere Bearbeitung findet sich unter dem Titel ‚Theodelind und das Meerwunder‘ in der Sammlung ‚Deutsche Sagen‘ der Brüder Grimm. Aufgrund des räumlichen und zeitlichen Fokus dieses Beitrags verzichten wir darauf, diese Erzählung näher in den Blick zu nehmen.

4 So bei seinem Kupferstich ‚Nemesis‘, der sich deutlich von seiner literarischen Quelle, Polizians Gedicht ‚Manto‘, entfernt und damit die autonome Bearbeitungspraxis des Künstlers erkennen lässt, vgl. Tönnesmann, Andreas: Die Kunst der Renaissance, München 2007, hier S. 113.

5 Vgl. Heinzle, Joachim: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik, Berlin, New York 1999, hier S. 44f.; Voorwinden, Norbert: Das Meerwunder. Heldendichtung oder Märchen?, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 60 (2005), S. 161–182; Haferland, Harald: Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im deutschen Mittelalter, Göttingen 2004, hier S. 401f.

6 Vgl. Müllenhoff, Karl: Die merowingische Stammsage, in: ZfdA 6 (1848), S. 430–435; Drescher, Karl: Hans Sachs und die Heldensage, Berlin 1890, hier S. 60–97; Stiefel, Arthur Ludwig: [Rezension] Drescher, Hans Sachs und die Heldensage, in: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 13 (1892), Sp. 185–190, hier Sp. 188–190; Voretzsch, Karl: Das Merovingerepos und die fränkische Heldensage, in: Philologische Studien. Festgabe für Eduard Sievers, Halle a. d. Saale 1896, S. 53─111, hier S. 73; Voretzsch, Karl: Epische Studien, Tübingen 1900, hier S. 281f.; Rosenfeld, Hans-Friedrich: Art. ‚Das Meerwunder‘, in: 1VL 3, Sp. 327f.; Hauck, Karl: Lebensnorm und Kulturmythen in germanischen Stammes- und Herrschergenealogien, in: Saeculum 6 (1955), S. 186–223, hier S. 196f.; Haug, Walter: Theodorichs Ende und ein tibetisches Märchen, in: Märchen, Mythos, Dichtung. Festschrift zum 90. Geburtstag Friedrich von der Leyens am 19. August 1963, hg. Von Hugo Kuhn u. Kurt Schier, München 1963, S. 83–115; Zöllner, Erich: Geschichte der Franken bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts, München 1970, hier S. 6, 178f.; Fichtner, E. G.: Das Meerwunder: The Progeny of the Monster from the Sea, in: Studia Neophilologica 81 (2009), S. 217–232; Voorwinden: Das Meerwunder (Anm. 5).

7 Vgl. Stiefel: Rezension (Anm. 6); Rosenfeld: Art. ‚Das Meerwunder‘ (Anm. 6); Drescher: Hans Sachs (Anm. 6); Voorwinden: Das Meerwunder (Anm. 5).

8 Von der Hagen, Friedrich Heinrich/Primisser, Alois (Hg.): Der Helden Buch in der Ursprache, 2. Bde., Berlin 1820/1825; die Erzählungen des ‚Dresdner Heldenbuchs‘ finden sich in Bd. 2, das ‚Meerwunder‘ S. 222–226, siehe Digitalisat [Stand 04.04.2016].

9 Fuchs, Edward A. H.: Das Meerwunder, in: Modern Philology 37 (1940), S. 225–240.

10 Kofler, Walter (Hg.): Das Dresdener Heldenbuch und die Bruchstücke des Berlin-Wolfenbütteler Heldenbuchs. Edition und Digitalfaksimile, Stuttgart 2006. Das ‚Meerwunder‘ S. 236–234.

11 Goedeke, Karl (Hg.): Dichtungen des Hans Sachs. Erster Teil: Geistliche und weltliche Lieder, Leipzig 1870. ‚Die königin mit dem merwunder‘ S. 299f.

12 Keller, A. v./Goetze, E. (Hg.): Hans Sachs, 16. Bd., Tübingen 1886. ‚Historia: Königin Deudalina mit dem meerwunder‘ S. 228–232.