Unheimliche Maschinen

Projekte in der Lehre

Interview mit Gunter Lösel

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Interview mit Dr. Gunter Lösel im Rahmen des Theaterworkshop “Unheimliche Maschinen”

geführt von Paula Semar, Devid Portenoy und Ines Paun

Paula Semar: Herr Lösel, auf Ihrer persönlichen Internetseite liest man „Ich liebe Improvisation“ und sogar „Viele Dinge erreicht man NUR durch Improvisation“. Was finden Sie, macht Improvisation so faszinierend? Was genau tritt nur durch Improvisation hervor?

Gunter Lösel: Improvisation fasziniert mich im Grunde seit ich sie kennengelernt habe, weil sie eine spontane Seite hervorhebt, die für mich im Kontext von Authentizität und Lebendigkeit extrem wichtig ist. Also ich glaube, dass es ein universelles biologisches Prinzip gibt, das Improvisieren eine gute Sache ist. Dass sich Organismen nur mit ihrer Umgebung in einer schnellen Art auseinandersetzen können, wenn sie improvisieren. Es bedeutet letztendlich, sich auf vorhersehbare Situationen einstellen zu können. Für die meisten in unserer Kultur ist es ein angstbesetztes Thema, weil wir versuchen Pläne zu machen und hoffen, dass die Pläne genau so hinhauen. Wenn sie das nicht tun, was sehr häufig der Fall ist, entsteht ein Panikmodus. Ich war früher auch so, aber war nicht zufrieden damit und finde die Welt ist viel interessanter, wenn man nicht an seinem Plan festhalten muss, oder die Welt so hinbiegen muss, dass sie in den Plan reinpasst. Ich finde es besser, wenn man adaptiv bleibt. Die Dinge, die nur mit Improvisation zu erreichen sind, sind Überraschungsmomente – man kann sich zum Beispiel nicht selber kitzeln, weil das Gehirn diesen Impuls rausfiltert –, man kann sich selbst nicht wirklich überraschen, aber mit Improvisation geht das. Das ist die einzige Technik, mit der das geht, mit der man sich zum Lachen bringen kann.

Paula Semar: In unserem projektbegleitendem Seminar haben wir den Text „Das Unheimliche“ (1919) von Sigmund Freud analysiert, in dem er an einer Stelle Das Unheimliche definiert als „etwas, was im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist.“ (Freud, S. 8) Ausgehend von ihrem Zitat zu den verborgenen Möglichkeiten der Improvisation, worin erkennen Sie Schnittstellen zwischen dem Phänomen des Unheimlichen und der Theaterpraxis der Improvisation?

Gunter Lösel: Ich hatte ja diese Faszination für den Begriff des „Dark Play“ entwickelt und es hat lange gedauert, bis ich gemerkt habe, dass er für mich relevant ist. Auf der Oberfläche ist Improvisation eigentlich nichts Unsichtbares, obwohl man natürlich mit dem „Noch-Ungewussten“, das man nur intuitiv erahnt, spielt. Je weiter man sich als Improvisationsspielender entwickelt, merkt man, dass es so eine Verwicklung in doppelte Spiele gibt. Diese Tischsituation ist eine gute Metapher dafür. Zum Beispiel führen wir auf der ersten Ebene ein Interview, aber auf einer weiteren Ebene passiert etwas anderes. Was unter dem Tisch passiert, das weiß ich nur so ungefähr, ich vermute etwas und genau diese Ahnung ist Teil des dunklen Spiels und korrespondiert natürlich mit dem Unheimlichen Freuds, der eben nach dem nicht unmittelbar Sichtbarem fragt, sondern nach dem, was “unter dem Tisch” versteckt ist, um im Bild zu bleiben. In diesem Sinne ist Improvisation unheimlich. Im Laufe der Improvisation bekommt man immer mehr Antennen dafür, was sonst noch so, unterbewusst, passiert.

Paula Semar: In Ihrem Werk Die Dunkle Seite des Spiels (2024), in dem es ja auch um das Unheimliche geht, erklären Sie, wie Spielen durchaus auch die destruktiven, korrumpierenden und gefährlichen Seiten des Menschen miteinbezieht. Wir haben uns daraufhin gefragt, welche Erfahrungen oder Beobachtungen Sie inspiriert haben, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen und was das mit dem Impro-Theater zu tun hat?

Gunter Lösel: Auf der Erfahrungsseite ist das leicht gesagt: Ich habe über 20 Jahre lang als Suchttherapeut gearbeitet und ich glaube, Sucht kann man als dunkles Spiel bezeichnen, das destruktive Formen annimmt. Wobei die Belohnung nie langfristig Befriedigung verschafft, sondern immer wieder ein neues Bedürfnis entstehen lässt. Das sind Spiralen – die von TherapeutInnen teilweise auch als Spiele bezeichnet werden –, die zu einer Dosissteigerung, zu wirklich persistierenden und destruktiven Mustern führen, die bereits in den Familienstrukturen angelegt sind. Der Begriff des „dunklen Spiels“ lag dann irgendwann nahe. Mir war klar, dass es Situationen gibt, die man eigentlich nur schwer als Spiel bezeichnen kann, weil es um Leben und Tod geht. Dass Impro-Theater sich nur mit Comedy beschäftigen soll, schien uns zu flach. So haben wir begonnen uns mit den dunklen Rändern unserer Realität zu beschäftigen und da ist das Konzept vom „dunklen Spiel“ dann wichtig geworden.

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Devid Portenoy: Ich würde gerne noch einmal zum „dunklen Spiel“ nachhaken wollen. In Ihrem Buch, das Paula auch gerade erwähnt hat, sprechen Sie das Konzept des „Dark Play“ von Richard Schechner an. Davon spricht man, wenn sich nicht alle Teilnehmer bewusst sind, dass sie Teil des Spiels sind. Inwiefern kann man Theater als „Dark Play“ verstehen?

Gunter Lösel:  Das ist eine sehr große Frage. Auf das Improtheater bezogen, glaube ich, kann man das „Dark Play“ als Doppelwertigkeit oder Doppelbödigkeit des Spiels verstehen. Es gibt immer ein offensichtliches Spiel, das das Publikum unmittelbar mitbekommt, und dann etwas Verstecktes, Unmittelbares. Also zum Beispiel, wir spielen jetzt die Szene, in der jeder einen Satz mit dem jeweils letzten Buchstaben anfangen soll. Dabei sollen so Gehirn-Jogging-Geschichten entstehen. Also eine Aufgabe eigentlich, das ist aber das Spiel. Und darunter entsteht nun noch ein zweites Spiel, das zum Beispiel Konkurrenz sein. Oder ein Spiel, das sich innerhalb der spontan entstehenden Fiktion entwickelt. Es sind dann vielleicht zwei Nachbarn, die sich unterhalten, da entsteht ein Spiel im Spiel. Und wenn man lange genug spielt, dann kommt etwas Unheimliches hervor. Ein gutes Beispiel ist, wenn du Improvisationsspielenden sagst: wir versuchen einfach nur zwei Minuten ,heile Welt‘ zu spielen. Ich kann garantieren, dass man nach zwei Minuten das Gefühl hat, hier stimmt etwas überhaupt nicht, hier braut sich etwas ganz Schlimmes zusammen. Das spüren die Spielenden, aber auch die Zuschauenden. Es ist wie ein Automatismus: Wenn man ein Spiel an der Oberfläche erzeugt, baut sich darunter ein zweites Spiel auf. Das ist leichter zu demonstrieren, als es zu erklären ist, aber es ist wirklich so. Und zwei Minuten ,heile Welt zu spielen‘ ist fast unmöglich. Es ist unerträglich lang.

Devid Portenoy: Wenn wir Ihre Überlegungen zu den dunklen Seiten des Theaters mit der antiken Dramentheorie von Aristoteles in Verbindung setzen: Hat das „Dark Play“ Ihrer Meinung nach etwas mit dem aristotelisch verstandenen Begriff der Katharsis zu tun?

Gunter Lösel: Viel. Wobei ich glaube, dass es nicht immer eine Katharsis im Sinne von Läuterung ist, dass man in irgendeiner Form etwas dazu lernt, sondern es ist meiner Meinung nach ganz oft ein Phänomen von Erschöpfung. Diese Spiele steigern sich, beschleunigen sich und die menschliche Natur macht irgendwann einfach schlapp. Und dann entsteht eine Pause und in dieser Pause entsteht etwas Neues, das niemand vorhersagen kann. Das ist tatsächlich wie ein disruptiver Prozess.

Devid Portenoy: Um noch einmal auf die Suchtgefahr zurückzukommen, die Sie bereits angesprochen haben, haben wir uns gefragt, ob man mit dem Konzept des “Dark Play” nicht auch unseren Gebrauch von Alltagsmedien beschreiben könnt? Man denke zum Beispiel an das endlose, sogenannte Doom-Scrolling von TikTok-Reels. Ihrer Frage Folge folgend, warum man sich Tragödien anschaut (S. 170), nun unsere Frage: Warum tun wir uns Reels an?

Gunter Lösel: Das ist eine super Frage. Ich glaube, dass es ein Suchtmechanismus ist und dass dieser einfach von Algorithmen entdeckt worden ist. Das ist die perfekte Droge.

Paula Semar: Kann man das dann auch als „Dark Play“ bezeichnen?

Gunter Lösel: Ich würde sagen ja. Also, die Nutzer wissen ja nicht, welches Spiel mit Ihnen gespielt wird. Sie glauben, Sie folgen einfach Ihrem Interesse.

Devid Portenoy:  Und damit bezogen gibt es ja auch Entzugsprobleme. Wenn man eine Zeit lang ohne sein Handy verbringt, fällt das einem schon auf. Man verspürt diesen Impuls.

Gunter Lösel:  Das ist auf jeden Fall ein sehr böses Spiel, würde ich sagen. Alleine die Lebenszeit, die einem gestohlen wird.

Sofina Dembruk: Und das ist ja wirklich eine Sucht, die alle Schichten betrifft. Das ist nicht irgendwie sozial prädeterminiert oder so, sondern betrifft alle, die ein Handy besitzen.

Devid Portenoy: Laut Freud ist die Wiederholung, in Form von Déjà-vus oder von wiederkehrenden Ereignissen (Schicksal oder Zufall?) oder Personen (Doppelgänger), ein markanter Auslöser des Unheimlichen. Wäre das Theater in diesem Sinne nicht auch ein unheimlicher Raum, in dem Schauspieler ihre Szene immer und immer wieder proben?

Gunter Lösel: Wahrscheinlich schon. Ich komme jetzt nun aber aus dem Improvisationstheater, wo wir genau das nicht tun. Ansonsten ist Schauspiel eine ziemlich repetitive Tätigkeit. Es ist fast schon zwangsneurotisch, wenn man ehrlich ist. Also die Art, wie das wirklich ganz genau inszeniert wird. Insofern trägt das vielleicht tatsächlich zu so einer Ästhetik bei, die unterschwellig unheimlich ist. Für mich haben die Schauspieler im inszenierten Schauspiel ein bisschen etwas Roboterhaftes, was nicht ganz natürlich ist. Also sie versuchen zwar eine Authentizität herzustellen, aber mit Psychotechnik letztendlich. Mich hat es noch nie hundertprozentig überzeugt. Ich habe zum Beispiel noch nie erlebt, dass ich so immersiert bin, dass ich den Unterschied zwischen Figuren und Schauspielern nicht mehr merke.

Devid Portenoy:  Das heißt, selbst während ihrer Improvisation hatten sie nie das Gefühl, dass sie eine solche Szene spontan schon mal gespielt haben?

Gunter Lösel: Das ist natürlich interessant. Ich glaube, mein Gedächtnis ist zu schwach, um mich an sowas zu erinnern. Nein, eigentlich nicht.

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Ines Paun: Das Theater ist eine der ältesten Kunstformen der Menschheit, doch seine Rolle hat sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert. Sie schreiben, dass “Menschen nicht ins Theater gehen, um etwas Neues zu lernen, sondern um etwas zu sehen, das sie leicht verstehen können” (S. 172). Glauben Sie, dass das Kino als Unterhaltungsmedium das Theater dahingehend ersetzt hat?

Gunter Lösel: Ja, wobei das Kino auch schon wieder ersetzt wird, und trotzdem existieren alle Medien weiter. Es ist komisch, da es nicht wie bei anderen Technologien ist, die dann wechseln und verdrängt werden. Ich glaube, dass die Idee, die es früher gab, nämlich dass Menschen ins Theater gegangen sind, um sich mit den Klassikern zu beschäftigen und damit ein eigenes Gefühl für die eigene kulturelle Identität zu bekommen, heute nicht mehr relevant ist. Ein gewisser Prozentsatz der Bevölkerung muss Schiller und Goethe kennen, sonst ist es im Grunde auch sinnlos.

Ines Paun: Maschinen und Künstliche Intelligenz bieten neue Möglichkeiten, Geschichten zu erzählen, könnten aber auch als Bedrohung für die menschliche Kreativität gesehen werden. Wie ist das für das Theater: Denken Sie, dass die Integration von Maschinen oder KI die Dynamik zwischen Schauspieler und Publikum verändert, bzw. verändern wird?

Gunter Lösel: Ich weiß nicht, ob ich die Prämisse teile, dass KI ermöglichen wird, neue Geschichten zu erzählen, weil die Anzahl von Geschichten, die wir uns erzählen, eigentlich limitiert ist. Manche sagen, es gibt nur drei Grundplots, manche sagen, es gibt zehn, manche sagen, es gibt 150. Es ist eine finale Menge von Geschichten, die immer wieder erzählt werden, in neuer Gestalt. Ich glaube, das hängt mit unserer Biologie zusammen und ich glaube nicht, dass die KI eine Geschichte erfinden kann, die uns ergreift und die bei uns etwas auslöst, ohne dass es einem bereits existenten narrativen Muster entspricht. Insofern glaube ich nicht, dass KI neue Geschichten herbeiführen kann, aber sie wird und sie kann die Theatersituation verändern, insofern, als noch eine dritte Instanz im Raum ist. Normalerweise haben wir die Schauspieler und die Zuschauer, und jetzt können wir noch einen dritten Agenten oder Agentin mit einbringen, der live in die Aufführung interveniert. Das ist eine ganz andere Situation, da ist plötzlich ein Dreieck.

Ines Paun: Wenn Sie an die nächsten Jahre denken, was wünschen Sie sich für die Zukunft des Theaters? Welche Elemente sollten unbedingt gleich bleiben, und welche neuen Entwicklungen sehen Sie als Chance?

Gunter Lösel: Also ich glaube, das Theatermachen ist nach wie vor extrem wichtig für die Menschen, die es machen. Ich denke, dass Theaterclubs und das Entwickeln von eigenen Theaterstücken solange bestehen werden, wie es Menschen gibt. Ob wir die großen Theaterbauten noch brauchen, die eben diese Art Nationalkultur transportieren, daran habe ich große Zweifel. Insofern würde ich mir wünschen, dass es viel mehr freie Kultur gibt und ein bisschen weniger repräsentative Theaterkultur.

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