Literatur als intelligentes System?

14. Dezember 2021, 18:00 Uhr

Herzliche Einladung zum Vortrag von Prof. Dr. Andreas Kablitz (Köln) an der Universität Stuttgart

Zeit: 14. Dezember 2021, 18:00 – 20:00 Uhr
Referent*in: Prof. Dr. Andreas Kablitz (Köln)
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Der Vortrag wird online über Webex organisiert.
Den Link zur Online-Veranstaltung finden sie unten.

Grußwort: Dott. Giuseppe Restuccia, Direktor des Italienischen Kulturinstituts Stuttgart

Kurzbeschreibung

Der Versuch, Literatur als System zu beschreiben, ist alles anders als neu. Eine der prominentesten Unternehmungen dieser Art stammt von dem russischen Semiologen Jurij M. Lotman, der sie als ein „sekundäres Modellbildendes System“ verstand: Sekundär, weil sie über der Sprache ein zweites System aufbaue, das durch eine Umkodierung primärsprachlicher Muster zustande komme, und modellbildend, weil sie – analog zu wissenschaftlichen Texten – ein Konzept von Welt entwerfe, das im Unterschied zu wissenschaftlichen Modellierungen keine Eindeutigkeit besitze, sondern stets von einer Vielfalt möglicher Perspektiven bestimmt sei. Literatur wird auf diese Weise auf eine strukturelle Vieldeutigkeit verpflichtet.
Was unterscheidet nun die in diesem Vortrag vorgestellte Konzeption von Literatur als einem intelligentenSystem von Lotmans Theorie? Eine wesentliche Differenz besteht darin, daß Lotman den Systemcharakter der Literatur in einer spezifischen Text­struktur ansiedelt. Der hier vorgeschlagene Ansatz situiert ihn statt dessen in einer Interaktion zwischen dem Text und seinen Rezipienten.
Den Ausganspunkt der Systembildung bietet jenes Textmoment, das man gemeinhin mit dem Begriff der Fiktionalität benennt, d. h. die Befreiung literarischer Texte von der Verpflichtung sprachlicher Aussagesätze, über Faktisches zu informieren. An genau dieser Stelle setzt diejenige Operation an, die wir gemeinhin als eine Interpretation verstehen. Sie besteht im Grunde in dem Versuch, literarischen Texten eine Information zu restituieren. Und weil das einzelne Dargestellte – die Geschichte Felix Krulls oder Emma Bovarys – als etwas (potentiell) Fiktives, eine solche Informationsfunktion unterläuft, versuchen Deutungen literarischer Texte diesen Informationscharakter zu sichern, indem sie das Einzelne der Darstellung auf allgemeine Aussagen über die Wirklichkeit abbilden: Dantes Göttliche Komödie als Summe mittelalterlicher Gelehrsamkeit oder Tho­mas Manns Buddenbrooks als Ausdruck einer von Schopenhauer inspirierten Vorstellung vom Verfall bürgerlicher Lebensverhältnisse.
Solche allgemeinen Vorstellungen aber werden durch Musterbildungen entwickelt, die dem Text abgewonnen werden und die stets erst durch einen Rezipienten zu bestimmen sind. Sie erfordern deshalb eine beständige Rückkoppelung der Hypothesenbildung mit dem Text: Größere Plausibilität kann konsequenterweise diejenige Interpretation beanspruchen, die die größte Menge an Textdaten zu integrieren vermag. Musterbildung ist insoweit sowohl das Ziel aller Interpretationen als auch das Regulativ ihrer Bewertung.
Als ein intelligentes System erscheint die Literatur insofern, weil der Systemcharakter des literarischen Textes nie vorgegeben, sondern grundsätzlich erst innerhalb eines heuristischen Prozesses der Deutung zu entdecken ist, der insoweit auch stets seiner Revision offensteht.
Die Annahme des Systemcharakters eines Textes stellt so etwas wie eine regulative Idee literarischer Kommunikation dar.


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